Psychisch Krank – Warum die Behandlung oft scheitert und was man dagegen tun kann
Nachfolgend beschreibe ich, was bei einer Behandlung alles schief gehen kann, wie man das Beste daraus macht und gebe Tipps im Umgang mit Psychiatern und Therapeuten.
Inhaltsverzeichnis
Mir selbst hat das Lesen von offiziellen Magazinen und Fachliteratur zum Thema “psychisch Krank & Behandlung” damals Hoffnung gemacht – anders, als das negativ verzerrte Geschwurbel in Internet-Foren und die Panikmache auf vielen Websites zur Selbst-Diagnose und -Behandlung (Online-Selbsttests zu Krankheitsbildern, User-Bewertungen für Medikamente etc.).
Die eigene Realität bzw. der eigene Krankheitsverlauf gestaltet sich dann meist trotzdem ganz anders und individuell. Es verläuft eben nicht alles nach “Schema F”. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Die Behandlung nach Schema F
Zur Veranschaulichung rekonstruiere ich einmal dieses “Schema F” am Beispiel Major Depression (schwere depressive Episode).
Basis hierfür sind meine eigenen Erfahrungen und Passagen aus dem Ratgeber für Depressionen der Stiftung Warentest (Link zum Taschenbuch auf Amazon). Dieser ist an sich durchaus empfehlenswert, lässt im Nachhinein betrachtet jedoch wenig Raum für individuelle Krankheitsverläufe.
Typischer Verlauf einer Erstbehandlung bei schwerer Depression
In der nachfolgenden Liste versuche ich einen typischen Behandlungsverlauf bei schwerer Depression (ICD F33.2) in chronologischer Abfolge zu rekonstruieren. Dabei ergänze ich gleichzeitig Punkte, die meiner Meinung nach oft fehlen, aber dazugehören sollten (kursiv) und solche, die oft passieren, aber eigentlich nicht nicht passieren sollten (durchgestrichen).
- Person F klagt bei einem Arzt über die typischen Symptome (meist beim Hausarzt)
Der Hausarzt verschreibt eigenmächtig irgendwelche Pillen und meint: “Die helfen Ihnen bestimmt.”
- Der Hausarzt überweist Person F an einen Psychiater oder direkt an eine PIA (Psychiatrische Institutsambulanz)
Der Psychiater verschreibt irgendwelche Pillen, meint: “Die helfen Ihnen bestimmt.” und macht einen Folgetermin in ca. einem Monat- Person F wird
nach einer Wartezeit von ca. 3-6 Monatenmeist direkt stationär in eine psychiatrische Akutklinik aufgenommen - In der Klinik findet zu Beginn eine umfassende Diagnostik statt, um die bisherige Diagnose zu bestätigen
- Person F wird auf die vom Psychiater / der PIA festgestellte Diagnose behandelt
(auf eine erneute Diagnostik wird verzichtet) - Person F wird schrittweise auf ein modernes, individuell ausgewähltes Antidepressivum “eingestellt” (Ermittlung der wirksamen Dosis, z.B. durch regelmäßige Messung des Medikamentenspiegels im Blut)
- Person F wird schrittweise auf die Höchstdosis eines bewährten
trizyklischenAntidepressivums hochdosiert - Person F erhält Psychotherapie, Psychoedukation und Entspannungsbehandlungen (z.B. PMR, Akkupunktur, Meditation, Achtsamkeitslehre)
- Person F kann sich im Klinik-Setting “entspannen”
- Person F wird bereits in der Klinik bzgl. einer anschließenden ambulanten Psychotherapie aufgeklärt und bei der Suche nach einem geeigneten Psychotherapeuten unterstützt
- Person F erhält eine Liste mit Telefonnummern von niedergelassenen Psychotherapeuten, um selbst eine anschließende ambulante Psychotherapie einzuleiten
- Nach 2 bis 4 Wochen sollte das Antidepressivum anschlagen, falls nicht und Höchstdosis erreicht, Versuch mit anderem Präparat
- Nach X Wochen schlägt Antidepressivum Y anscheinend an
und die Beschwerden von Person F bessern sich scheinbar lt. subjektiver Beobachtung des Klinikpersonals - Aufgrund der individuellen Behandlung wird Person F nach 8 Wochen aus der Klinik entlassen, eine Besserung der Beschwerden wurde durch eine erneute Diagnostik bestätigt (z.B. Fragebogen nochmal ausfüllen und Delta bestimmen)
- Person F bleibt weiterhin an die PIA der Klinik angebunden und hat vorübergehend mindestens einmal pro Woche einen Termin, um den weiteren Verlauf zu beobachten
- Person F wird nach 4 Wochen mit einer Überweisung an den Psychiater aus der Klinik entlassen
(der behandelnde Arzt ist der Meinung, dass sich die Beschwerden gebessert haben und hat beschlossen, dass eine ambulante Weiterbehandlung ausreicht)
Wo ist hier das Schema?
Wenn man sich die Liste so anschaut, wird eines relativ schnell deutlich: Bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen wird zwar mehr oder weniger nach einem bestimmten Schema vorgegangen, doch dieses ist sehr anfällig für Fehler bzw. Fehlentscheidungen und neigt zu Lücken.
Am Ende wird aus der Behandlung unter Umständen dann eine halbgare Geschichte, nach deren Durchlaufen sich Patienten oft nicht viel besser oder im schlimmsten Fall sogar schlechter fühlen.
Woher kommen die Probleme?
Die Gründe für eine unzureichende oder falsche Behandlung einer psychischen Erkrankung lassen sich meines Erachtens an drei wesentlichen Faktoren festmachen: Kommunikation, Messbarkeit, Komplexität und Kapazität.
Unzureichende Kommunikation zwischen Arzt und Patient
Eine Hauptursache für Missverständnisse zwischen Arzt und Patient bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen ist meines Erachtens eine altbekannte Problematik:
Wird gerne zitiert aber selten beachtet: “Ein gebrochenes Bein sieht man, eine psychische Erkrankung nicht.”
Um eine psychische Erkrankung richtig zu behandeln, muss ein Arzt bzw. Psychiater oder Psychotherapeut dem Patienten genau zuhören und ihn vor allem ernst nehmen.

Doch auch, wenn dies gegeben ist, kann es im Gespräch zu Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten kommen. Das ist normal und menschlich. Manch einer tut sich eben schwer dabei, seine Gefühle in Worte zu fassen. Andere genieren sich oder fürchten sich sogar davor, über gewisse Thematiken zu sprechen (z.B. bei traumatischen Erlebnissen). Trotzdem ist es sehr wichtig, möglichst viele Ungereimtheiten auszuräumen, um eine klare Diagnose stellen zu können.
Diagnosen werden oft nicht abgesichert
Um eine Diagnose und den Behandlungserfolg abzusichern, gibt es verschiedene standardisierte Fragebögen. Dazu wird der Fragebogen zu Beginn der Behandlung und nochmals zu einem späteren Zeitpunkt vom Patienten ausgefüllt. Anhand des Deltas (z.B. “Suizidgedanken” anfangs 4 von 5, später 2 von 5) kann der Erfolg der Behandlung messbar gemacht werden.
Sowohl Psychiater, als auch Psychologen neigen jedoch gerne dazu, diese lästige, da zeitaufwändige Arbeit zu überspringen. Meiner Erfahrung nach verlassen sich beim Fachpersonal vor allem die älteren Semester gerne auf ihr “Gefühl” oder ihre “Erfahrung”. Dies birgt die Gefahr, dass Patienten zu schnell eingeordnet bzw. in eine Schublade gesteckt werden (aus der sie dann unter Umständen so schnell nicht wieder herauskommen).
Hohe Komplexität in der Behandlung
Hat man Kopfschmerzen, nimmt man ein Schmerzmittel. Die Kopfschmerzen verschwinden nach einiger Zeit.
Hat man eine schwere Depression, wünscht man sich nichts mehr, als dass dieses Konzept auch bei Antidepressiva so einfach funktionieren würde. Leider ist dies bei Psychopharmaka generell nicht der Fall. Sie wirken bei jedem individuell anders und die Wirkmechanismen der Medikamente sind bis heute nicht wirklich bekannt bzw. geklärt.
Exkurs: Wie wirken Antidepressiva?
Die beliebte Theorie vom Serotoninmangel im Gehirn, den es auszugleichen gilt, ist längst widerlegt. Die zwei aktuellsten mir bekannten Theorien zum Wirkmechanismus von Antidepressiva sind:
a) Falls eine Besserung eintritt, ist dafür nicht die Erhöhung der Serotoninkonzentration im Gehirn verantwortlich, sondern indirekt damit zusammenhängende, nachgelagerte Eiweiß-Prozesse. Deshalb wirken die Medikamente auch nicht sofort, sondern erst nach Aufbau eines Serumspiegels. Wäre das Serotonin direkt dafür verantwortlich, müssten Antidepressiva bereits nach der ersten Einnahme Effekte zeigen.
b) Antidepressiva stoßen bisher nicht erforschte Prozesse an, die die Schlafqualität fördern und die Neuroplastizität des Gehirns erhöhen. Soll heißen, dass das Gehirn neuronale Netze dadurch schneller um- und aufbauen kann. Das würde zumindest die statistisch bewiesene gesteigerte Effektivität bei der Gabe von Antidepressiva in Verbindung mit einer Psychotherapie untermauern.
Hinweis: Ich bin weder Psychiater noch Pharmazeut und habe hier ausschließlich die von mir selbst recherchierten und interpretierten Sachverhalte bzgl. der möglichen Wirkmechanismen von Antidepressiva dargestellt.
Antidepressiva werden oft verschrieben, wirken tatsächlich aber selten
Wenn man sich zur Einnahme von Antidepressiva entschließt, muss man meist mehrere Präparate ausprobieren. Ein Prozess, der Monate dauern kann.
In den seltensten Fällen profitiert ein Patient direkt vom ersten Medikament (ist dies der Fall, kann man sich wirklich glücklich schätzen!). Manche Betroffene finden erst nach Monaten oder gar Jahren ein Medikament, das ihnen wirklich hilft. Oftmals bringen die Medikamente überhaupt keinen Nutzen oder verschlechtern sogar die Symptome.
Die Rolle des Psychiaters bei der medikamentösen Therapie
An diesem Fakt können auch Psychiater nichts ändern – Sie können aber zumindest moderne und auf das Krankheitsbild des Patienten zugeschnittene Medikamentenprofile erstellen und anwenden.
Bis heute werden oft und gerne auch bei der Erstbehandlung trizyklische Antidepressiva verschrieben, von denen manche bereits vor über 50 Jahren auf den Markt kamen. Diese werden generell schlechter vertragen und zeigen deutlich mehr Nebenwirkungen, als die meisten modernen Präparate.
Tipp: Woran erkenne ich einen guten Psychiater?
Ein guter Psychiater sollte in etwa so vorgehen, wie ich es im vorherigen Absatz beschrieben habe. Er nimmt also eher eine beratende Position ein. Ob ihr wirklich von einem Medikament profitiert, könnt ihr letzten Endes nur selbst beurteilen.
Misstrauisch solltet ihr meiner Meinung nach dann werden, wenn der Psychiater nicht transparent agiert. Das kann bedeuten, dass er nicht konkret auf eure Problematik eingeht, sich gefühlt nicht genug Zeit für euch nimmt oder euch direkt (alte) Medikamente andrehen will, weil er der Meinung ist, damit gute Erfahrungen gemacht zu haben.
Anmerkung: Das Thema Psychotherapie als Behandlungskonzept gehört eigentlich auch in diesen Teil, würde an dieser Stelle allerdings den Rahmen sprengen. Ich werde dies in einem separaten Beitrag nachholen.
Zu wenig Kapazität und Inkompetenz im psychiatrischen Sektor
Eigentlich weiß jeder, der bereits ernsthaft mit dem psychiatrischen Umfeld konfrontiert war, dass Klinik- und Therapieplätze in Deutschland Mangelware sind. Ambulante Therapeuten haben teilweise Wartelisten von über einem Jahr. Auf einen Platz in einer (teil-)stationären Klinik (z.B. Psychosomatik) wartet man ebenfalls oft Monate.
Einen Therapieplatz zu haben, bedeutet noch lange nicht, dass die Therapie auch hilft…
Dabei kommt noch erschwerend hinzu, dass der Antritt einer stationären oder ambulanten Therapie keinesfalls garantiert, dass diese dann auch hilfreich ist. Stimmt die “Chemie” zwischen Patient und Therapeut nicht, ist eine effektive Therapie kaum möglich.
Die Chemie zwischen Patient und Therapeut muss stimmen
Im schlimmsten Fall wartet man also monatelang auf einen Therapieplatz, um dann in der ersten (probatorischen) Sitzung festzustellen, dass man mit dem/der Therapeut/in zwischenmenschlich nicht kompatibel ist. Meines Erachtens sollte man in diesem Fall lieber weitersuchen, als auf Krampf eine Therapie zu beginnen, bei der man von Anfang an kein gutes Gefühl hat.
Am Schlimmsten waren für mich persönlich Therapeuten, die bereits bei den Erstsitzungen angefangen haben, “ins Blaue” zu therapieren. Mir wurden teils absurde Ratschläge erteilt und unnötig Ängste geschürt – Fatal für einen Menschen, der psychisch bereits am Boden ist!
Mein Favorit (Zitat des Therapeuten): “Verlassen Sie am Besten sofort die Klinik, in der sie gerade sind. Die ist das Letzte, da habe ich schon schlimme Sachen gehört – Ziehen Sie am Besten gleich um, fangen Sie woanders neu an!”

Tipp: Woran erkenne ich einen guten Therapeuten?
Ein kompetenter Therapeut hält sich meines Erachtens im Erstgespräch deutlich mit Aussagen zurück, stellt vor allem Fragen und wird versuchen, euch möglichst gut kennenzulernen. D.h., die meiste Zeit redet ihr und schildert eure Problematik. Wenn ihr am Ende der Sitzung das Gefühl habt, dass der Therapeut vertrauenswürdig erscheint und eure Situation versteht, ist das eine gute Basis.
Fazit
Die Behandlung und Genesung einer psychischen Erkrankung ist ein komplexer, langwieriger und fehleranfälliger Prozess. Um so besser ist es, wenn man als Betroffener nicht selbst nach und nach zu dieser nüchternen Erkenntnis kommen muss, sondern darauf vorbereitet ist. So kann man rechtzeitig gegensteuern oder andere Wege einschlagen.
Meine wichtigste Lektion ist, dass man letzten Endes immer selbst an sich arbeiten muss, um Erfolg zu haben. Ärzte und Therapeuten können euch bestenfalls möglichst gut dabei unterstützen. In diesem Sinne wünsche ich jedem, der sich gerade auf diesem Weg befindet, nur das Beste und schließe meinen Beitrag mit einer weiteren abgedroschenen aber wahren Lebensweisheit ab:
Der Weg ist das Ziel, wenn du bereit bist, ihn selbst zu gehen.
Community Time!
Welche positiven oder negativen Erfahrungen habt ihr bei Behandlungen erlebt? Habt ihr weitere Fragen, Lob oder Kritik zum Thema?
Dann schreibt sie mir gerne in die Kommentare. Ich freue mich auf euer Feedback!