Das doppelte Selbstwertkonzept – Positives Selbstkonzept und Narzissmus
Inhaltsverzeichnis
Im ersten Teil meines Beitrags zum Konzept des doppelten Selbstwerts habe ich beschrieben, wie ein negatives Selbstkonzept bzw. Selbstbild entstehen und zu psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen führen kann.
Ich empfehle euch daher, den ersten Teil hier zu lesen, bevor ihr fortfahrt. Eine Voraussetzung zum Verständnis dieses Beitrags ist das jedoch nicht.
Im zweiten Teil gehe ich nun auf die Entstehung eines doppelten Selbstwertkonzepts ein. Was führt also dazu, dass jemand ein zweites Selbstkonzept entwickelt und welche Auswirkungen hat das?
Entstehung eines zweiten Selbstkonzepts
Vorab eine kurze Zusammenfassung aus dem ersten Teil:
Erfahrt ihr in eurer Kindheit und Jugend viel Demütigung und Scham, werdet ihr sehr wahrscheinlich ein negatives Selbstbild entwickeln. Ihr prägt euch dann Glaubenssätze ein, wie z.B. “Ich bin nicht liebenswert!” oder “Ich mache alles falsch!”. Häufigste Ursache hierfür ist ein invalidierendes Umfeld (z.B. häufige Abwertungen, Bestrafung, Ablehnung oder Gewalt).
Wenn emotionale Nähe verdient werden muss
In einem derartigen sozialen Milieu erhält man (scheinbare) emotionale Nähe und Anerkennung oft nur, wenn man bestimmte Leistungen erbringt (z.B. gute Noten in der Schule) oder besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht (z.B. lügen). Welche Handlung dazu notwendig ist, bestimmt das Motiv des Betroffenen. Dies kann z.B. der Wunsch nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Schutz bzw. Unterstützung (Solidarität) oder Selbstbestimmung (Autonomie) sein.
Negativbeispiel
Für eine “1” in der Schule bekommt ihr von eurem Vater 10 Euro, bei einer “5” gibt es eine Ohrfeige und eine Woche Hausarrest. In diesem Fall erfahrt ihr Anerkennung also nur, wenn ihr immer gute Leistungen erbringt.
Gesunde Gegenbeispiele
In einem gesunden Elternhaus werden Kinder in jeder Situation wertgeschätzt und geschützt. Auch dann, wenn sie mal gegen eine Regel verstoßen.
In einer gesunden Beziehung nehmen sich beide Partner so an, wie sie sind. Keiner hat die Absicht, den anderen zu verändern. Oder in drei Worten…
Liebe ist bedingungslos – Emotionale Nähe ist nicht echt, wenn man sich diese erst verdienen muss oder wenn sie durch Manipulation erreicht wird.
Diskrepanz zwischen “innen” und “außen”
Das wiederholte Signal, dass man nur OK ist, so lange man bestimmte Erwartungen erfüllt oder entsprechend manipuliert, erzeugt einen inneren Konflikt. Durch den Mangel an echter emotionaler Nähe und Akzeptanz ist man innerlich geprägt von Selbstzweifeln und fühlt sich nicht liebenswert. Man hat aber gelernt: Um diesen negativen Zustand zu kompensieren, muss man sich Anerkennung, Aufmerksamkeit oder Selbstbestimmung erarbeiten bzw. verdienen.
Dies macht einen schließlich zum Getriebenen der sich selbst auferlegten Erwartungshaltung. Um diese nach außen zu repräsentieren und den geringen Selbstwert zu verstecken, entsteht ein zweites, gegenteilig behaftetes, also positives Selbstkonzept (SK+).
Das ursprüngliche negative Selbstbild (SK-) verschwindet jedoch nicht einfach und sendet weiter gegenteilige Signale, wie z.B. Selbstzweifel oder Minderwertigkeitsgefühle. Diese treiben das dysfunktionale System an und erhalten das Bedürfnis aufrecht, sie zu kompensieren. Ein Teufelskreis.
Doppelter Selbstwert im Narzissmus
Die beschriebenen gegenteiligen Selbstkonzepte sind zentrale Bestandteile zur Erklärung der Funktionsweise und Aufrechterhaltung des Narzissmus bzw. der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Es ist sprichwörtlich die harte Schale, die den weichen Kern schützen und verbergen soll. Die Schale entspricht dabei dem konstruierten positiven Selbstkonzept und der Kern dem ursprünglichen negativen Selbstbild.
Leider gleicht der weiche Kern eher einem schwarzen Loch. Denn egal, wie sehr sich der Narzisst auch anstrengt – Mit seinen dysfunktionalen Strategien kann er seinen Minderwertigkeitskomplex nicht auflösen.
Zumindest solange nicht, bis er sich nicht reell mit ihm auseinandersetzt (z.B. im Rahmen einer Psychotherapie) und weiter versucht, ihn über das zweite positive Selbstkonzept zu kompensieren und zu verdrängen.
“Innen pfui, außen hui”
Das zweite Selbstkonzept des Narzissten beinhaltet gegenteilige positive Glaubensätze, die die Anstrengungen im Kampf um Anerkennung und Erfolg trotz der widrigen Bedingungen untermauern. Es soll das ursprüngliche negative Selbstbild überschatten.
Der Grad der Ausprägung des positiven Selbstkonzeptes kann hierbei von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Von simplen Zuschreibungen, wie “Ich bin kompetent” oder “Ich bin attraktiv”, bis hin zu illusionären Vorstellungen, wie “Wäre ich mehr gefördert worden, wäre ich Anwalt. Also bin ich im Grunde Anwalt und sollte auch wie einer behandelt werden”.
Blindheit für echte Anerkennung
Narzissten haben in der Regel negative Beziehungsschemata (Angst vor Kritik und Abwertung) und Bindungsängste entwickelt. Grund dafür sind die vergangenen schlechten und schmerzhaften Erfahrungen mit Bezugspersonen, die das ursprüngliche negative Selbstbild geprägt haben.
Narzissten stehen sozialen Bindungen somit stehts misstrauisch gegenüber und neigen zum Generalisieren. Sie übertragen diese Annahme also automatisch auf potentielle neue Beziehungen.
Das nimmt ihnen unter Umständen die Möglichkeit zur objektiven Einschätzung der Qualität einer neuen Beziehung, z.B. mit einem neuen Arbeitskollegen oder mit einem neuen Partner. Eine stabile soziale Bindung erfordert Transparenz. Transparenz macht einen angreifbar. Dieses Risiko ist einem Narzissten oft zu hoch.
Falsche Erwartungen & Entfremdung von eigenen Motiven
Das Handeln eines Narzissten ist grundsätzlich durch dessen Motivation geprägt (z.B. Anerkennung erhalten). Prägende Erwartungen von außen legen dabei einen Handlungsspielraum fest, sprich: Was muss getan werden, um Anerkennung zu erhalten (z.B. gute Leistungen in Schule / Ausbildung / Beruf).
Je mehr sich der Narzisst zur Erfüllung dieser Erwartungen verpflichtet fühlt, desto höher ist das Risiko, dass er seine eigenen Motive aus den Augen verliert. Die hochgradige Fixierung auf das Erfüllen einer Erwartung kann ihn schließlich in einem Konflikt gefangen halten. (“Ich will die Erwartung nicht erfüllen, aber ich muss! Ich darf nicht versagen, es gibt keine andere Option!”).
Beispielsituation zur Verdeutlichung
Ein Vater ist selbst hochrangiger Akademiker. Er erwartet von seinen Kindern, dass sie ebenfalls ein Studium absolvieren und einen akademischen Grad erwerben. Alles darunter, wie z.B. ein Ausbildungsberuf, betrachtet er als minderwertig.
Handlungsbeispiel eines narzisstischen Sohns (Fremdmotiviert)
“Um Anerkennung zu bekommen, muss ich meinen Vater stolz machen. Ich muss deshalb studieren und möglichst gut oder hochgradig abschließen. Was genau weiß ich noch nicht. Alles andere würde meinen Vater nicht zufrieden stellen. Mein Praktikum in der Autowerkstatt hat Spaß gemacht. Aber wenn ich dort eine Ausbildung mache, hält mein Vater mich für einen Versager. Das kommt nicht in Frage.”
Handlungsbeispiel eines gesunden Sohns (Eigenmotiviert)
“Ich könnte meinen Vater stolz machen, indem ich studiere und einen entsprechenden Abschluss mache. Doch eigentlich habe ich gar keine Lust auf ein Studium. Ich will erst einmal arbeiten und mein eigenes Geld verdienen. Das Praktikum in der Autowerkstatt hat mir großen Spaß gemacht. Ich werde dort eine Ausbildung als KFZ-Mechatroniker machen. Danach kann ich immer noch studieren, wenn ich möchte. Das muss mein Vater halt schlucken, schließlich geht es um mein Leben.”
“Kosten” des Narzissmus
Viele Narzissten scheitern schließlich, weil sie ihren eigenen Leistungsanforderungen irgendwann nicht mehr nachkommen können. Sie schaffen es also nicht mehr, ihr negatives Selbstkonzept ausreichend zu kompensieren.
Die Gründe reichen von leitungsmäßiger totaler Überforderung (körperlich und/oder psychisch), über Stagnation durch Entfremdung von den eigenen Motiven bis hin zu zerstörten Familienverhältnissen und daraus resultierender Einsamkeit.
Folge ist meist die Ausbildung komorbider Störungen, wie Sucht, Depression oder Angststörungen bis hin zu akuter Suizidalität. Die Betroffenen suchen sich wegen der Folgeerkrankung dann oft erstmals psychiatrische Hilfe ohne ein Bewusstsein für ihre dysfunktionalen Verhaltensweisen als eigentliche Ursache zu haben.
Fazit
Das doppelte Selbstkonzept stellt beim Narzissmus eine Bewältigungsstrategie dar, mit der Betroffene versuchen, ihre negativen Gefühle zu verdrängen. Der innere Konflikt kann damit jedoch nicht aufgelöst werden. Es entsteht ein Teufelskreis aus wiederkehrenden Selbstzweifeln, die über das zweite Selbst-Schema kompensiert werden sollen. Je nach Ausprägung, gelingt dies den Betroffenen unterschiedlich gut und lange. Eine Krise entsteht, wenn die eigenen Leistungsanforderungen nicht mehr aufrecht erhalten werden können.
Community Time!
Habt ihr Fragen zum Thema? Oder habt ihr vielleicht sogar eigene Erfahrungen mit narzisstischen Verhaltensmustern, die ihr teilen möchtet?
Dann schreibt sie mir gerne in die Kommentare. Ich freue mich auf euer Feedback!